Die Erinnerungskapelle

Gleich links, wenn man in den Vorraum unserer Kirche kommt, befindet sich eine kleine Kapelle. Das ist durchaus ungewöhnlich, denn Kapellen als separate Andachtsräume neben der Gemeindekirche sind etwas, was nach evangelischem Verständnis überflüssig ist. Wenn evangelische Kirchen solche Kapellen haben, dann meist dort, wo sie bereits im Mittelalter, also vor der Reformation errichtet wurden. Unsere Kirche ist allerdings von Anfang an evangelisch gewesen. Bemerkenswert ist auch, dass durch diese links des Eingangs gelegene Kapelle die ansonsten peinlich genau eingehaltene klassizistische Mittensymmetrie unserer Kirche durchbrochen wird. Eine Kapelle in einem evangelischen Gotteshaus, an einer Stelle, die den Baumeistern unserer Kirche niemals in den Sinn gekommen wäre, Grund genug, einmal mehr einen Blick zurück in die Geschichte von St. Martin zu werfen.

Tatsächlich gibt es das „Kapellsche“ noch gar nicht so lange, es entstand erst im Zusammenhang der großen Innenrenovierung 1958 als Erinnerungs- und Gebetsstätte für die Gefallenen des zweiten Weltkriegs. Heute, über siebzig Jahre nach Kriegsende, mag vielen der Gedanke an einen solchen Erinnerungsort fremd geworden sein, aber wir sollten bedenken, dass die Planungen für die oben genannte Renovierung gerade mal zehn Jahre nach Kriegsende begannen, zu einer Zeit, als deutsche Kriegsgefangene noch immer in der Sowjetunion festgehalten wurden. Allein der Umstand, dass als Stätte der Erinnerung nicht eine weitere martialische Gedenktafel, sondern ein Ort des Gebets entstand, ist bemerkenswert.

Noch im 19. Jahrhundert galten im Krieg gefallene Soldaten einfach nur als Helden, ihr Schicksal wurde als vorbildlich und nachahmenswert empfunden. Entsprechend heroische Denkmale findet man auch heute noch immer wieder. Ein erstes Umdenken setzte nach dem, von Deutschland verlorenen ersten Weltkrieg ein. Erstmals werden nun in Erinnerungsstätten Trauer, Schmerz und Verlust thematisiert. Man denke nur an die großartigen Arbeiten von Käthe Kollwitz, Ernst Barlach oder George Grosz. Auch bei uns in Kelsterbach wird in den 1920ern ein Gefallenendenkmal an der Mainstraße errichtet; es zeigt eine gramgebeugte trauernde Frau und hat überhaupt nichts Heldenhaftes mehr. Dieser Umgang mit dem Schicksal von Millionen gefallener Weltkriegssoldaten galt kurze Zeit darauf den Nationalsozialisten allerdings als verweichlicht, als dekadent und „wehrkraftzersetzend“. Innerhalb kürzester Zeit verschwanden alle Denkmale, die nicht heroisch genug waren, aus der Öffentlichkeit. Viele wurden eingeschmolzen, zerhackt oder - wie in Kelsterbach - abgebaut und eingelagert.

An Stelle der trauernden Frau, die später auf dem alten Teil des Kelsterbacher Friedhofs wieder aufgestellt wurde, trat nun ein roter Sandsteinpylon, ausgestattet mit allen Insignien von Staat und Partei. Einmal mehr folgte das Gedenken an die Gefallenen der Erkenntnis von Horaz: Dulce et decorum est pro patria mori  (Süß und ehrenhaft ist es, für’s Vaterland zu sterben).

Zehn  Jahre und Millionen Tote später waren die Zeiten von „süß und ehrenhaft“ endgültig vorbei. Aus den Helden waren Gefallene geworden, um die nun auch getrauert wurden durfte. Entsprechend dem neuen Geist des Gedenkens schaffte die junge Bundesrepublik den bisherigen Heldengedenktag ab und schuf den Volkstrauertag, der Wandel ist bereits in der Benennung dieses Tages der Erinnerung erkennbar.

Kaum eine Familie hatte keinen Gefallenen zu beklagen, aber auch der Luftkrieg hatte viele Opfer gefordert, Millionen waren durch Flucht und Vertreibung heimatlos geworden, Hunderttausende während der Flucht umgekommen.

All das war noch nicht sehr lange her, als die Evangelische Kirchengemeinde Kelsterbach anlässlich der Vierhundertjahrfeier der Gemeindegründung die dringend notwendig gewordene Renovierung unserer Kirche anging, und ein wichtiger Punkt auf der Liste der gewünschten Arbeiten war die Schaffung einer Erinnerungs- und Gebetsstätte für alle, die den Krieg nicht überlebt hatten. Für die geplante Kapelle wurden das linke Treppenhaus der Kirche (die ursprünglich auch hier selbstverständlich klassizistisch symmetrisch gebaut worden war) abgetragen und die Deckenöffnung zum Obergeschoss geschlossen. Ein Altar aus Holz und zwei kleine Kirchenbänke wurden angeschafft und das bisherige Altarkreuz sowie zwei der alten Altarleuchter der Kirche in der neuen Kapelle aufgestellt. Außerdem wurde eine Gedenktafel aus dem Jahr 1895, „gestiftet von Jungfrauen Kelsterbachs“, die an die Teilnahme Kelsterbacher Soldaten an den Kriegen vor allem von 1866 und 1870 / 71 erinnerte, aus der Kirche in die neue Kapelle überführt.

Für die neue Kapelle schuf Heinrich Hofmann ein Gefallenengedenkbuch, in dem an alle Toten der Gemeinde in eindrucksvoller Weise erinnert wird. Zu guter Letzt wurde noch eine Tür zwischen der neuen Kapelle und dem Vorraum der Kirche eingebaut, denn die Außentür der Kapelle war über Jahrzehnte tagsüber geöffnet. Dieses Angebot für Erinnerung und Gebet wurde von der Gemeinde angenommen, kaum eine Woche verging, in der nicht frische Blumen auf dem Altar standen oder im Gefallenenbuch eine andere Seite aufgeschlagen war.

Im Mai 1979 wäre es dann um ein Haar um die Kapelle, ja um die ganze Kirche geschehen gewesen.

Es waren unruhige Zeiten, die geplante Errichtung der Startbahn West schlug hohe Wellen, das Dafür und Dagegen schuf nahezu unüberwindliche Barrieren, auch in der Kirche. Möglicherweise in diesem Zusammenhang versuchten bis heute unerkannt gebliebene Brandstifter unsere Kirche anzuzünden. Durch die tagsüber geöffnete Kapelle war es nicht schwierig, ins Kircheninnere zu kommen. In der Kapelle wurden die beiden Bänke und der hölzerne Altar übereinander gestapelt, das Altartuch und die Kerzen als Brandbeschleuniger darunter gelegt, die Altarbibel und das Kreuz aus dem 19. Jahrhundert darüber gelegt, nachdem zuvor viele Seiten als Anfeuerpapier herausgerissen worden waren. Auch das Gefallenenbuch wurde zum Anfeuern verwendet. Hätte nicht Frau Volz aus dem gegenüberliegenden Haus den Brand schon sehr früh bemerkt, die Kirche wäre wohl bis auf die Grundmauern heruntergebrannt.

Aber auch so war das Bild nach dem Löschen des Feuers trostlos. Altar, eine der Bänke, Lesepult sowie Altarbibel und Kreuz waren nicht mehr zu retten, das Gefallenenbuch in Teilen schwer zerstört.

Im Zusammenhang mit der Innenrenovierung 1979 wurde auch die Kapelle neu hergerichtet. Als kompliziert stellte sich die Wiederherstellung des Gefallenenbuches heraus, das nach zwanzig Jahren teils neu geschaffen werden musste, wobei es besonders schwierig war, von manchen der abgebildeten Soldaten nochmals Fotos zu bekommen. Viele Seiten waren stark verkohlt und mussten erneuert werden, bei anderen kann man heute noch die Spuren des Feuers erkennen. Leider ist seit 1979 die Kapelle tagsüber von außen nicht mehr zugänglich, zu groß ist die Sorge vor mutwilliger Zerstörung.

Ein weiteres Mahnmal der Erinnerung erhielt die Kapelle 1989, als im Zuge der Geläuteerweiterung von St. Martin eine der beiden Glocken, die die Gemeinde 1951 vom Landesdenkmalamt als Ersatz für die in beiden Weltkriegen verlorenen Glocken erhalten hatte, aus dem Geläute entfernt wurde. Sie stammt aus Pommern, wurde dort 1942 abgehängt und der Verhüttung zugeführt, überstand den Krieg in einem der großen Glockenlager und konnte nach 1945 nicht mehr an ihre ursprüngliche Gemeinde zurückgegeben werden, da diese nicht mehr existierte. Sie wurde unserer Gemeinde, allerdings nur leihweise zur Verfügung gestellt, da man damals noch an der Vorläufigkeit der „Oder-Neisse-Grenze“ festhielt, wir hätten sie also wieder abgeben müssen, sobald Hinterpommern wieder ein Teil Deutschlands sein würde. Völkerrechtlich verbindlich hat Deutschland die heutige Ostgrenze erst im Zusammenhang der deutschen Einigung ab 1989 anerkannt, und folgerichtig teilte uns das Hessische Landesdenkmalamt 1990 mit, dass die bisherige Leihglocke nun in den Besitz der Gemeinde überginge.

Diese Glocke steht nun in der Erinnerungskapelle zum Gedenken an all die vielen Menschen, die die Flucht aus dem ehemaligen deutschen Osten nicht überlebt haben und zur Erinnerung an alle die, die nach der Flucht in Kelsterbach eine neue Heimat fanden.

Erwähnenswert ist außerdem das rote St. Martinsparament. Es wurde Anfang der Neunziger Jahre nach einem Entwurf des Künstlers Hermann Rapp im Elisabethenstift in Darmstadt angefertigt und zeigt den Hl. Martin mit dem Bettler. Mit diesem Parament, das alljährlich zur Kirchweihe in der Kirche am Altar hängt, schließt unsere Betrachtung zur Kapelle von St. Martin, kommt der Begriff Kapelle doch vom lateinischen capella (Umhang/ kleiner Mantel) und meint ursprünglich den geteilten Mantel des Hl. Martin. Dieser galt den fränkischen Königen als wichtige Reliquie, weshalb er immer dort, wo der König gerade residierte, in einem besonderen Andachtsraum aufbewahrt wurde. Dieser Raum nahm irgendwann den Namen der Reliquie, der capella an, und noch später begann man, kleinere Andachts- und Gebetsräume generell als Kapelle zu bezeichnen.

Erwähnenswert ist auch das jüngste Ausstattungsstück der Kapelle. Vor drei Jahren wurde der Gemeinde ein frühbarockes Kruzifix geschenkt, in Alter und Gestaltung dem ähnlich, das in der Kirche über dem Altar hängt.

Im kommenden Jahr wird sie sechzig Jahre alt, die Erinnerungskapelle von St. Martin, und es ist stiller geworden in der Kapelle. Viele Jahre ist der letzte Krieg nun vorbei, kaum noch jemand ist am Leben, der eine persönliche Erinnerung an alle die hat, derer hier gedacht wird. Für die Nachgeborenen sind Kriegszeiten mit all ihrem Grauen heute kaum noch vorstellbar, im Frieden zu leben, ist uns selbstverständlich geworden.

Ist unsere Kapelle denn überhaupt noch zeitgemäß? Wir leben in Friedenszeiten, aber die Nachrichten, die uns täglich aus aller Welt erreichen, zeigen, dass das nicht selbstverständlich ist. Nach wie vor fallen Menschen übereinander her, nach wie vor sehen viele der Mächtigen Krieg als eine selbstverständliche Option an.

Ja, die Idee, die unserer Kapelle zu Grunde liegt, Mahnung an die Überlebenden zu sein, ist heute genauso aktuell wie vor sechzig Jahren, leider, und sie wird es auch weiterhin sein, solange Menschen Kriege gegeneinander führen.