Die St. Martinskirche im Kelsterbacher Unterdorf

Architektur

Die St. Martinskirche wurde von 1819 – 1823 erbaut, nachdem die baufällige Vorgängerkirche 1817 niedergelegt worden war. Da die Gemeinde nicht über die notwendigen Mittel verfügte, wurden per Gerichtsbeschluss der Landesherr Großherzog Ludwig I . und die großherzogliche Finanzverwaltung zum Bauherrn bestimmt. Der Entwurf zu der neuen Kirche stammte von dem anerkannten Baumeister Georg Moller aus Darmstadt.

Von der im Rahmen seiner Ausbildung obligaten Italienreise hatte Moller die Idee mitgebracht, wie man heutzutage bauen sollte: nach klassischem Vorbild, mit Ebenmaß und Erhabenheit, dabei aber nüchtern und zweckbetont. Und dies wurde bei der Kirche in Kelsterbach verwirklicht.

Die Westfassade der Kirche zeigt klassische Proportionen: Die flache Dachneigung von Kirche und Turm entspricht italienischen Vorbildern, das Tympanon (Giebeldreieck, auch auf der Rückseite der Kirche) und die Nischen für die Götterstatuen erinnern an römische Tempel. Die Kirche ist außen und innen symmetrisch, die mittlere Tür führt ins Kirchenschiff, während die beiden Seitentüren zu den Treppenaufgängen zu den Emporen führen. Die Kapelle ist eine „Zutat“ von 1958. Die Kirche als sakrales Gebäude wird auf der Höhe der Dachtraufe von einem umlaufenden Zahnstab geschmückt, der sich im Kircheninneren wiederholt.

Der Turm steht mittig eingezogen im Baukörper, alles ist auf die „Mitte“ hin konzentriert. Der Kirchenraum ist eine große, gegliederte Halle, streng nach vorn ausgerichtet. Die Gliederung erfolgt durch sechs freistehende ionische Säulen und vier aus der Wand heraustretende Pfeiler (Lisenen), die das Dach und die beiderseitigen Emporen tragen. Bemerkenswert ist hier, dass die sechs Säulen vor die Emporenbrüstung treten und damit ein eigenständiges Gestaltungsmerkmal bilden.

Die Ostwand der Kirche ist als Kanzel-Altar-Wand gestaltet, wiederum streng symmetrisch, wobei das Tympanon der Westfassade sich über der Kanzel spielerisch wiederholt. Die Orgel bekrönt die Rückwand. Die beiden Türen führen in Nebenräume ohne liturgische Funktion.

Ein weiteres Stilmerkmal der Mollerkirche ist die Verwendung von Rundbögen. Die Fenster in der Türmfassade, die Götternischen, die Fenster des Kirchenschiffs haben Rundbögen, und diese wiederholen sich in dem Bogen über der Eingangstür in der Kirche (dem „Halbmond") und dem großen Bogen, in den die Orgel eingepasst ist. Auch das Fenster hinter der Orgel – vom Kircheninneren nicht zu sehen – ist halbrund. Und die beiden Fenster des Dachbodens der Kirche sind als Halbmondfenster (Lunetten) ausgeführt – von außen aber fast nicht zu entdecken.

Auch Sandsteinbänder, die die Fenster einfassen und miteinander verbinden, sind – zusammen mit den umlaufenden Zierbändern – ein von Moller oftmals angewandtes Stilelement.

Man sollte hier anmerken, dass Georg Moller für den Kirchenbau des 19. Jahrhunderts stilprägend war. Die Stilelemente des „romantischen Klassizismus“, die Moller als erster verwendete, finden sich später auch an Kirchen wieder, an deren Bau er selbst oder seine Schüler nicht beteiligt waren.

Die heutige Kirche

Die Kirche zeigt sich heute von außen in der ursprünglichen Fassung, während im Inneren einige Veränderungen stattgefunden haben. Von 1912 bis in die Mitte der 50er-Jahre hinein war sie historisierend ausgemalt und die Emporenbrüstungen trugen Bibelsprüche. Bei der Renovierung 1956/58 wurde die Kirche in unterschiedlichen Grautönen gestrichen, das ursprünglich strenge, weiß gestrichene und mit goldenen Zierlinien versehene Gestühl wurde durch die gegenwärtigen Bänke ersetzt, die Fenster erneuert und der Altar verändert. Zudem wichen die dicken Kirchenöfen einer Heizung. Erst bei der nachfolgenden Renovierung 1979 erfolgte der Anstrich der Wände in der ursprünglichen Farbe, die Bänke und Fenster wurden dem Farbkonzept angepasst, der Fußboden mit Sandsteinplatten belegt, Altar und Taufstein erneuert. Die heutigen Kirchenfenster wurden 1958 von der Kelsterbacher Künstlerin Marianne Scherer-Neufarth gestaltet. Sie zeigen in strenger symbolischer Reduktion die Feste des Kirchenjahres, dazu ein Tauf- und ein Abendmahlfenster. Die Motive „Anfang“ und „Ende“ finden sich in den Fenstern auf Höhe des Treppenaufgangs. Die auf der linken Seite der Turm-Eingangshalle befindliche Kapelle gehört nicht zu der ursprünglichen Ausstattung der Kirche. Sie wurde 1958 als Erinnerungskapelle für die im Krieg gefallenen und vermissten Kelsterbacher hergerichtet, zusammen mit einem Gedenkbuch mit den Namen der Betroffenen.

Der Name "St. Martinskirche"

Die Suche nach dem Namen führt uns weit zurück in die Vergangenheit. Bei der fränkisch-merowingischen Landnahme um 500 n. Chr. wurde an der Kelstermündung ein königlicher Wirtschaftshof (eine „Wildhube“) am Rande des Reichsforsts Dreieich angelegt. Dazu wurde auch an gut sichtbarer Stelle zwischen Kelsterbach und Schwanheim eine Kapelle und spätere Kirche errichtet, die dem Heiligen Martin von Tours geweiht war: die Merzkirche.

Bei Einführung der Reformation wurde das Kirchspiel aufgelöst: Schwanheim blieb katholisch und besaß mit der Mauritiuskirche ein eigenes Gotteshaus. Kelsterbach wurde evangelisch und nahm den Namen der 'Martins-' > 'Mertens-' > 'Merzkirche' mit. Der Bezug auf diese Überlieferung zeigte sich bei der Einweihung der Kirche am Martinstag 1823. Sie war danach als die „Kirche von Kelsterbach“ bekannt, nach dem Bau der katholischen Herz-Jesu-Kirche dann als „Evangelische Kirche“.

Erst mit dem Bau einer weiteren evangelischen Kirche in Kelsterbach, der Christuskirche, bekam die Kirche im Unterdorf „offiziell“ ihren Namen, wobei der Name „St. Martinskirche“ schon länger nachgewiesen ist. Die St. Martinskirche ist übrigens die einzige evangelische Kirche dieses Namens in der EKHN.

Das Kruzifix

Der barocke, dreiviertel lebensgroße Kruzifixus über dem Altar wurde um 1600 von einem unbekannten Meister gefertigt. Der Überlieferung nach hing es bereits in der Vorgängerkirche der St. Martinskirche. Nachdem diese niedergelegt worden war, wurde das Kreuz mit Korpus auf dem Spitzboden des Pfarrhauses verwahrt, wo es 1912 „wiederentdeckt” wurde. Nach der Renovierung der Kirche fand es seinen Platz über dem Taufstein. Erst mit der letzten Renovierung kam es an die jetzige Stelle.

Die Glocken

Im Turm hängt ein Geläut von sechs Glocken. Zwei Glocken wurden 1951 und drei weitere 1989 bei Rincker in Sinn gegossen. Die zweitschwerste Glocke (Gloriosa) ist über 500 Jahre alt und kam nach dem Krieg nach Kelsterbach. Die Glocken läuten in Zusammenklang mit dem sechsstimmigen Geläut der katholischen Herz-Jesu-Kirche am Main den Sonntag ein. In der Kapelle am Eingang ist die älteste, ca. 1350 entstandene Pommernglocke aus Kannenberg aufgestellt. Sie wurde nach dem Krieg der Gemeinde zur Verfügung gestellt und erklang bis zur Beschaffung des gegenwärtigen Geläuts.