Historisches

Die erste Orgel in der Vorgängerkirche der heutigen St. Martinskirche wurde bereits im Jahre 1754 erbaut. Nachdem die Kirche im 19. Jahrhundert immer baufälliger wurde, und die Wirren der Napoleonischen Kriege (1813–1815) einen Neubauplan verzögerten, wurde sie 1817 abgerissen.

1819–23 wurde die heutige Kirche im klassizistischen Stil nach Entwürfen von Georg Moller (1784–1852), Oberbaurat und Hofbaurat des Großherzogtums Hessen-Darmstadt, erbaut.

1822 schloss man mit dem Orgelbauer Johann Hartmann Bernhard (1773–1839) aus Romrod einen Vertrag über den Neubau einer Orgel, die bei der Einweihung der neuen Kirche am Martinstag (11. November) 1823 erstmals erklang.

Auf die Gestaltung der Disposition (Gesamtheit der Register) nahm der Großherzoglich-Hessisch-Darmstädtische Hoforganist und Kammermusiker Johann Christian Heinrich Rinck (1760–1846) persönlich Einfluss.

Vermutlich hat er auch die Orgel nach Fertigstellung abgenommen. Gegenüber dem Entwurf des Orgelbauers wünschte er mehr Grundstimmen zu 8’ und 4’, eine terzhaltige gemischte Stimme (Sesquialter) und eine Vox humana im Diskant des zweiten Manuals.

Rinck war ein berühmter und hochdekorierter Musiker seiner Zeit und ein Enkelschüler Bachs. So dürften seine Dispositionswünsche Bachs Intentionen entsprochen – und einen Hauch von Bachs Geist bis in die Orgel von St. Martin geweht haben.

Architektur

Eine bauliche Besonderheit von St. Martin fällt sofort ins Auge und steckt zudem voller Symbolik: Während in den meisten Kirchen die Orgel auf der Westempore im Rücken der Gemeinde platziert und die Kanzel seitlich angebracht ist, stehen hier Altar, Kanzel und Orgel in einer Linie im Angesicht der Gemeinde.

Dieser Aufbau findet sich hauptsächlich in Dorfkirchen der Barockzeit und ist besonders im Bergischen Land als „Prinzipalaufbau“ bekannt. Hier wurde quasi vorweggenommen, was in der Baugeschichte viel später zum „Wiesbadener Programm“ erhoben und erstmals durch den Berliner Architekten Johannes Otzen 1892–94 beim Bau der Wiesbadener Ringkirche verwirklicht wurde.

Symbolisch werden durch diese Architektur das Sakrament (Altar), das Wort (Kanzel) und die Musik (Orgel) als die Elemente der Verkündigung in eine Linie gestellt. Das Sakrament bildet die Basis. Das Wort steht gemäß der lutherischen Lehre in der Mitte. Aber das gesungene Wort übersteigt noch einmal das gesprochene Wort.

Die heutige Orgel

Die Jahre nach den Napoleonischen Kriegen waren, wie alle Nachkriegszeiten, von Mangel geprägt. So verwendete man 1823 für den Neubau der Orgel nicht in allen Teilen die besten Materialien. Die Folge: Nach 125 Jahren war sie fast nur noch zur Hälfte spielbar.

1948 nahm Orgelbauer Richard Schmidt (1889–1951 ) aus Gelnhausen eine weitgreifende Überholung und Umgestaltung vor. Wieder herrschte in den Jahren nach dem 2. Weltkrieg Mangel an guten Materialien, und so dauerte es nur gut zwei Jahrzehnte, bis die solchermaßen „geflickte“ Orgel praktisch unspielbar war.

Pfr. Wolfgang Lichtenthaeler (1934–2014) erreichte schließlich mit großem Verhandlungsgeschick und zähem, kunstsinnigem Willen einen handwerklich und künstlerisch hochwertigen Orgelneubau, den die Orgelbauwerkstatt Förster & Nicolaus aus Lich 1970 ausführte. Er verhinderte damit eine „Billiglösung“ mit einer Elektronenorgel, zu der der Kirchenvorstand zunächst tendierte.

Die neue Orgel wurde hinter dem originalen Prospekt (Schauseite der Orgel) von 1823 errichtet, sodass das Kircheninnere optisch nicht beeinträchtigt wurde. Sogar die originalen Prospektpfeifen des Prinzipal 8’ und Prinzipal 4’ aus der alten Orgel blieben erhalten, genau wie das Gemshorn 4’, das ursprünglich Salicional 4’ hieß. Diese drei alten Pfeifenreihen zählen zu den schönsten Registern der Orgel, besonders der einmalig singende, runde Prinzipal 8’, der den Vergleich mit den Prinzipalen berühmter historischer Orgeln nicht zu scheuen braucht.

Der Zimbelstern

Als Symbol für den Stern über dem Stall von Bethlehem befindet sich gut sichtbar oben in der Mitte der Orgel ein goldener Stern, den der Organist ein- und ausschalten kann. Dahinter versteckt sich ein Glockenspiel – eine typisch barocke Spielerei.

Wenn der Stern sich dreht, werden an einer rotierenden Welle kleine Glöckchen (Zimbeln) angeschlagen, die dem sogenannten „Zimbelstern“ sein helles Geläut verleihen.

Besonders in der Weihnachtszeit erzeugt dieser Glockenklang eine feierliche Atmosphäre und legt sich wie glitzerndes Lametta über den Orgelklang. Daher wird der Zimbelstern spätestens bei der 3. Strophe von „O du fröhliche“ eingesetzt und scherzhaft auch „Zimtstern“ genannt.

Weitere Infos finden Sie in einem ausführlichen Artikel unseres ehemaligen Kantors Rainer Noll:
https://erbacher-hof.de/orgel/kelsterbach_stmartin