100 Jahre Frauenhilfe

Auszüge der Festschrift zum 100-jährigen Bestehen (2012)

Einer trage des anderen Last,
so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.

( Galater  6,2 )

Eine Reise durch die Vergangenheit

Einhundert Jahre lang gibt es sie nun, unsere Frauenhilfe, Zeit zurückzublicken, Zeit darüber nachzudenken, woher wir kommen und uns bei dieser Gelegenheit auch zu fragen, wo wir in den kommenden Jahren hinwollen.

Einhundert teils sehr bewegte Jahre, in denen sich unser Land, unsere Stadt und deshalb selbstverständlich auch die Frauenhilfe immer wieder stark verändert haben.

Einhundert Jahre, in denen sich die Frauenhilfe von einer kleinen, wenig beachteten Gruppe am Rand zu einer festen Größe innerhalb unserer Stadt und unserer Gemeinde entwickelt hat.

Einhundert Jahre, in denen die Frauen gelernt haben dass sie gebraucht werden und dass sie etwas bewirken können.

Einhundert Jahre, in denen die Frauenhilfe vielen Frauen zu einem wichtigen Teil ihres Lebens, zur Heimat wurde.

Wer glaubt, die Frauenhilfe sei heute nur wenig mehr als ein organisiertes Kaffeekränzchen für ältere Damen, etwas verstaubt und kaum wirklich ernst zu nehmen, wird feststellen, wie nah dieser Verein von Anfang an am Puls der Zeit war, wie selbstverständlich seine Mitglieder immer dort, wo gerade Hilfe notwendig war aktiv wurden und es bis heute sind. Im Folgenden wollen wir in zehn Kapiteln die Geschichte unserer Frauenhilfe nachzeichnen, und wir werden sehen, daß diese Geschichte noch lange nicht zu ihrem Ende gekommen ist.

1912

Im Frühjahr gräbt der Archäologe Burkhard in Aegypten die Büste der Nofretete aus, Gerhard Hauptmann erhält den Literaturnobelpreis, die Opelwerke feiern 50 jähriges Jubiläum, das PVC wird erfunden, Zukunfts- und Fortschrittgläubigkeit allenthalben. Düstere Schatten gibt es allerdings auch bereits. Die Titanic sinkt, die Konflikte zwischen Deutschland und England verschärfen sich und die Kaiserliche Kriegsflotte wird ausgebaut.

Das kaiserliche Deutschland ist auf dem Zenit seines Glanzes angekommen. Wirtschaftlich ist das Land das erfolgreichste der Welt, die Industrialisierung ist weit fortgeschritten, auch auf dem Gebiet der Forschung auf unterschiedlichsten Gebieten ist Deutschland führend. Neue Eisenbahnen, Telegraphen- und Telephonleitungen verbinden das Land, fließendes Wasser und Elektrizität finden überall Verbreitung.

Der enorme Fortschritt kommt allerdings nicht überall an. Soziale Not, autoritäre Staatsstrukturen und mangelnde Mitbestimmung lassen zum ersten Mal die Sozialdemokraten zur stärksten Reichstagsfraktion werden.

In diesem Jahr gründen 25 evangelische Frauen in Kelsterbach den Gustav Adolf Frauenverein. Eigentlich ist die damalige Situation der heutigen recht ähnlich. Es gibt Not, es ist wichtig zu helfen, aber den Kelsterbachern selbst geht es in diesen Jahren recht gut. Die Glanzstoff, Opel, die Landwirtschaft bieten Arbeit. Die Kelsterbacher sind zwar nicht reich in diesen Jahren, aber sie haben zu leben. Und so wird die Frauenhilfe als Instrument gegründet dort zu helfen, wo es den Menschen nicht so gut geht. Dem Geist der Zeit entsprechend bleibt man dabei in der eigenen Kirche und unterstützt Evangelische in der Diaspora. Einen Teil der Erträge läßt man aber bereits damals in der eigenen Gemeinde. Es sind relativ entspannte Jahre, noch gilt es, die Not anderer, weit weg von Kelsterbach zu lindern, und wohl kaum eines der Gründungsmitglieder kann auch nur im entferntesten ahnen, wie dringend nur wenige Jahre später die Frauenhilfe zur Linderung der Not im eigenen Ort gebraucht werden wird.

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1922

Nach gerade nur zehn Jahren ist Deutschland nicht mehr wiederzuerkennen. Der erste Weltkrieg hat das Kaiserreich zusammenbrechen lassen, die Republik ist entstanden, eine von fast allen ungeliebte Staatsform, die von Beginn an von allen Seiten her angegriffen wird. Die Sowjetunion entsteht und in Italien übernimmt Mussolini die Macht. In München wird ein gewisser Adolf Hitler wegen Landfriedensbruch verurteilt, in Luxor findet Howard Carter das Grab Tut Ench Amuns und das erste Gebäude aus Stahlbeton entsteht.

In Kelsterbach herrscht inzwischen die blanke Not. Seit dem Ende des Krieges gehört das Dorf zur französischen Besatzungszone. Wegen einer Hitzewelle 1921 sind große Teile der Ernte verdorrt, es herrscht Hunger. Noch gilt die kaiserliche Währung, aber sie ist immer weniger wert, und in Folge von Hunger, Kälte, mangelnder medizinischer Versorgung und Entkräftung kommt es zu einer heftigen Grippewelle.

Hatte der Frauenverein während des Krieges zunächst noch seine Hilfe für auswärtige Notleidende fortgeführt, indem beispielsweise aus dem Osten vertriebene Pfarrer unterstützt wurden, wird nun zunehmend das Wirken im eigenen Ort, in der eigenen Gemeinde notwendig. Da werden noch während des Krieges Kriegsgefangene mit Paketen unterstützt, da muß aber vor allem in Not geratenen Frauen in Kelsterbach selbst geholfen werden. Viele Männer sind eingezogen oder in Gefangenschaft, die Fabriken müssen aber weiter arbeiten. Die Frauen werden in die Fabriken geschickt, sie müssen sich aber auch um die Felder und um ihre Kinder kümmern. Hier helfen sich die Mitglieder untereinander, sie sammeln auch Geld und Naturalien, um denen beizustehen, die von der Not der Zeit besonders betroffen sind. Nach Kriegsende wird die Situation noch schlimmer. Der Zusammenbruch von Reich und Wirtschaft, vor allem aber die außerordentlich hoch angesetzten Reparationen an Frankreich sorgen besonders in den durch Frankreich direkt kontrollierten Gebieten für einen Mangel an so ziemlich allem was man zum Überleben braucht. Die völlig entkräfteten Menschen sind leichte Beute für mehrere verheerende Grippeepidemien und andere Krankheiten, die durch Überarbeitung und Mangelernährung entstehen.

In dieser Situation nimmt der Frauenverein mit seinen inzwischen 300 Mitgliedern die völlig desolate Situation in der Krankenpflege selbst in die Hand. Aus seinen Einnahmen richtet er eine Krankenpflegestation im Obergeschoß des Kindergartens ein und kommt für die Einrichtung und das Gehalt der Diakonisse aus dem Darmstädter Elisabethenstift auf. Darüber hinaus werden weiterhin Gelder gesammelt, um Nahrungsmittel und vor allem Brennholz für die besonders Bedürftigen zu kaufen, es wird im Winter nämlich so kalt, daß der Main zufriert. Nach nur zehn Jahren hat der Frauenverein so seine erste harte Bewährungsprobe bestanden. Von einem mildtätigen Frauenverband, in dem man sich aber kaum selbst „die Hände schmutzig macht“ ist ein für die dörflichen Verhältnisse Kelsterbachs starker, zupackender Verband von Nothelferinnen geworden.

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1932

Kolonialbehörden in Indien lassen den Rechtsanwalt Mahatma Gandhi als Aufwiegler verhaften, Edgar Wallace stirbt, und in  den USA wird F.D. Roosevelt neuer Präsident, in den Agfa Werken wird der Farbfilm erfunden. 

Nachdem Deutschland durch  die galoppierende Inflation von 1923 wirtschaftlich auf einem Tiefpunkt angekommen war, kommt es im weiteren Verlauf der zwanziger Jahre zu einer erstaunlichen Stabilisierung der Verhältnisse. Es geht aufwärts, die schlimmste Not scheint überwunden, auf den Gebieten von Wissenschaft und Kunst ist Deutschland so produktiv wie nie zuvor. Aber der Aufschwung ist noch nicht gefestigt, und die in den USA ausgelöste Weltwirtschaftskrise stürzt auch Deutschland wieder in große Not. Die Arbeitslosenzahlen schnellen empor und betragen 1932 durchschnittlich sechs Millionen. Auch aus Mangel an Information über die internationalen Zusammenhänge, vor allem aber getrieben von den Parteien am äußersten rechten und linken Rand des politischen Spektrums macht die Bevölkerung die ungeliebte Republik und ihre Repräsentanten für sämtliche Rückschläge verantwortlich. Hitler erklärt öffentlich, nur die Überwindung des demokratischen Systems könne eine Rettung bewirken, an den Wahlurnen stimmt man ihm zu, die NSDAP wird stärkste Reichstagsfraktion, Hermann Göring wird Reichstagspräsident.

Auch in Kelsterbach ist die weltweite Krise inzwischen angekommen. Längst ist der Ort ja kein reines Bauerndorf mehr, dessen Einwohnern die weltweiten Wirtschaftsströme gleichgültig sein können. Mit dem Glanzstoffwerk und dem 1930 fertiggestellten Umspannwerk der RWE, das ganz Hessen mit Strom versorgt im eigenen Ort, außerdem mit Opel und den Farbwerken Hoechst als benachbarten Arbeitgebern, hat die Wirtschaftskrise auch für die Kelsterbacher verheerende Folgen .  Wegen des krisenbedingten Zusammenbruchs der Absatzmärkte schmilzt allein die Belegschaft der Glanzstoff von 2500 auf 300 Mitarbeiter zusammen, 1932 wird das Werk zeitweise ganz geschlossen. Not und Zukunftsangst führen auch in Kelsterbach zu einer enttäuschten Abkehr von den demokratischen Parteien, der Ton wird rauer.

Die Frauenhilfe hat sich in den schweren Nachkriegsjahren als zupackende Selbsthilfeorganisation bewährt. Nachdem eine Krankenpflegestation eingerichtet worden war, wird schnell ersichtlich, daß eine Schwester allein die Krankenpflege gar nicht bewältigen kann, und so sammelt man weiter, um eine weitere Schwester einstellen zu können. Der Ausbau und die Errichtung einer Küche in der Schwesternstation werden ebenso von der Frauenhilfe getragen wie die Beschaffung von Brennholz für die Beheizung der Kirche. In diesen schweren Jahren kann man einen gewissen Wandel im Selbstverständnis der Frauenhilfe erkennen. In den ersten beiden Jahrzehnten verstand man sich ausschließlich als Hilfsverein, der helfen wollte Not zu lindern, wo auch immer sie herrschte. Die Mitglieder der Frauenhilfe waren sehr findig, um mit ihren begrenzten Möglichkeiten möglichst viel zu bewirken. Als Verein, der auch nach innen, also für die eigenen Mitglieder wirken sollte, hatte man sich allerdings nicht verstanden. Sicher, die angebotenen Kurse und die Leistungen der Schwesternstation kamen auch den Mitgliedern zu Gute, darüber hinaus jedoch war die Frauenhilfe keine eigene Gruppe in der Gemeinde, sie war bisher kaum mit eigenen regelmäßigen Veranstaltungen präsent gewesen. Doch all die verstörenden gesellschaftlichen Umwälzungen, die Hilflosigkeit weiter Teile der Bevölkerung in einer als bedrohlich empfundenen Welt, der fiebrig von einem Extrem ins andere wechselnde Zeitgeist sorgen für eine Suche nach Orientierung, wie sie die Kirche, deren Präsenz sich fast überall noch auf Gottesdienste beschränkt selten bietet. Aus ersten Kaffeenachmittagen heraus entsteht rasch ein festes Gerüst von regelmäßigen Veranstaltungen. Monatliche Vorstandssitzungen, wöchentliche Frauenabende und ebenfalls wöchentlich abgehaltene Bibelstunden sollen Angebote sein, sich auch außerhalb der Gottesdienste zu treffen, sie sollen Halt und Orientierung geben in einer haltlosen Zeit. Der seit Kurzem bestehende Bläserchor leistet neben seiner kirchenmusikalischen Arbeit Ähnliches und wird folgerichtig von der Frauenhilfe mit Spenden zur Anschaffung von Musikinstrumenten unterstützt. Vortragsabende, die sich wie die Bibelstunden an die gesamte Gemeinde richten, gehen ebenfalls auf das Engagement der Frauenhilfe zurück. Diese Aktivitäten sind damals nicht selbstverständlich, was man unter anderem daran erkennen kann, daß die wenigsten Gemeinden zu jener Zeit über eigene Versammlungsräume verfügen. Die Frauenhilfe hält daher ihre Veranstaltungen üblicherweise im Kindergarten, manchmal auch im Saal des Gasthauses zur Sonne oder (selten!)  auf der Friedrichshöhe ab. Daß man bei allem guten Willen dem Geist der heraufziehenden Zeit nicht ganz entkommt mag eine Begebenheit aus dem Jahr 1930 belegen. Auf Initiative der Frauenhilfe konnten 20 deutsche Kinder aus dem seit 1918 polnischen Stanislaus nach Kelsterbach in die Ferien reisen, das damals gezogene Fazit lautet: „Evangelischer Glaube und deutsches Volkstum gehören zusammen“.

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1942

Die Welt steht am Abgrund, so liest man immer wieder, wenn über die Zeit des 2. Weltkriegs berichtet wird. In welchem Ausmaß das zutrifft erkennt man bereits, wenn man auf die bedeutendsten Erfindungen des Jahres 1942 blickt. In Chicago gelingt die erste Kettenreaktion. Damit beginnt das atomare Zeitalter. Ebenso in den USA wird das Napalm entwickelt, der Schleudersitz wird erfunden, in Peenemünde steigt die erste V2 Rakete über 90 Kilometer hoch, damit gelingt der erste Weltraumflug, und in England wird das Radar zur Ortung von Kampfflugzeugen erstmals eingesetzt.

Seit drei Jahren leben die Menschen wieder im Krieg. Deutschlands Angriff auf Polen hatte 1939 einen Krieg losgetreten, der inzwischen fast ganz Europa und Nordafrika überzieht. Das Kaiserreich Japan, mit Deutschland verbündet, schickt sich an, ganz Ostasien zu erobern. 25 Jahre zuvor waren Europas Staaten allesamt nur zu bereit gewesen übereinander her zu fallen, und die deutsche Mobilmachung stellte hierfür nur den Auslöser dar. Nun wird Europa von dem in Deutschland herrschenden, und von einem großen Teil der Bevölkerung mitgetragenen Nationalsozialismus, dessen rassischer Überlegenheitsanspruch jedes auch noch so ungeheuerlich scheinende Handeln rechtfertigt, in den brutalsten Krieg aller Zeiten gerissen. Nach zunächst durchaus erfolgreichen Eroberungszügen, die den Überlegenheits- und Allmachtsphantasien durchaus recht zu geben scheinen, zeichnet sich 1942 eine Wende ab.

 Im Januar kapituliert die 6. Armee der Wehrmacht vor Stalingrad. In Großbritannien entwickelt Marschall Arthur Harris das gezielte Flächenbombardement, im gleichen Jahr werden Lübeck und Köln die ersten Ziele des britischen Bomber Command. Die Mainzer Altstadt wird erstmals schwer getroffen. Von Berlin aus wird mit der „Endlösung der Judenfrage“ begonnen, das millionenfache Morden erreicht sein schlimmstes Stadium. Um die Männer, die an den Fronten kämpfen zu ersetzen,  werden in den besetzten Gebieten sogenannte „zwangsverpflichtete Hilfswillige“ rekrutiert, die nach Deutschland verschleppt werden.

Auch in Kelsterbach ist der Krieg schnell angekommen. Die Männer müssen an die Front, die Frauen ersetzen sie in den Fabriken und auf dem Feld. Bereits vor Kriegsausbruch konnte wer wollte an vielen Details ablesen, das man auf schlimme Zeiten zuging. Bereits 1934 läßt der Gemeinderat im Schloßkeller einen Luftschutzraum ausbauen, das Ehrenmal für die Gefallenen des 1. Weltkriegs hat von der Mainstraße auf den Friedhof zu verschwinden, eine Trauernde Frau entspricht nicht den heroischen Vorstellungen der neuen Machthaber. Der damals neu angeschaffte Obelisk steht in leicht reduzierter Form heute noch an der Mainstraße. Im Zusammenhang der von der Gauleitung gewünschten Zentralisierung der jüdischen Bevölkerung in größeren, leichter zu kontrollierenden Gemeinden verlassen die letzten der 40 jüdischen Familien den Ort, wenige nur werden überleben. Der Gemeinderat beschließt, zur Erweiterung des Friedhofs, den „Judenfriedhof zu kassieren“. 1942 gibt es den ersten Bombenabwurf über Kelsterbach, ein Gehöft in der Feldstraße wird beschädigt, die beiden Kirchengemeinden haben ihre Glocken abzuliefern, und in der St. Martinskirche werden Gedenkgottesdienste für 28 Gefallene gehalten. Ebenfalls im Jahr 1942 kommen verstärkt Zwangsarbeiter ins Dorf um auf den Höfen und in der Fabrik zu arbeiten.

Bereits 1922 und 1932 müssen sich die Mitglieder der Frauenhilfe gesagt haben, dass es nun nicht mehr schlimmer kommen könne. Aber dass einmal eine Zeit kommen würde, in  der sogar die Existenz ihres Vereins, der doch wirklich als einziges Ziel das Helfen hat, bedroht sein könnte, hätten sie nie ahnen können.

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten entsteht innerhalb kürzester Zeit ein Staat, der die Gesamtheit des Lebens seiner Bürger kontrollieren will. Alternatives oder gar oppositionelles Denken ist vollkommen ausgeschlossen, aber auch unpolitische Vereine sind ungern gesehen, geht es doch bei allem um die Stärkung der deutschen Volksgemeinschaft, ein Abseitsstehen hierbei macht bereits verdächtig. Gleichschaltung ist angesagt, nicht direkt der NSDAP eingegliederte Organisationen haben sich, wo immer möglich, einer parteikontrollierten Verbandsform anzuschließen oder sich aufzulösen.. Im Fall der Frauenhilfe wäre das die NS Frauenschaft. Zwar gelingt es, die Frauenhilfe unabhängig zu erhalten, aber ohne Konzessionen, wie das Mitwirken bei der NS Volkswohlfahrt ist das nicht zu erreichen. Nach damaliger Vorstellung tut die Frauenhilfe ja auch nichts anderes als die Volkswohlfahrt, nämlich den Bedürftigen zu helfen. Ihr im Lauf der vergangenen schweren Jahre immer wichtiger werdendes Handlungsgebiet, nämlich die geistliche Bereicherung des Gemeindelebens, der Zusammenhalt innerhalb der Gemeinde, Orientierung am Evangelium für die Gemeinde zu bieten, das wäre innerhalb der NS Frauenschaft unmöglich zu leisten. Daß die Frauenhilfe sich dieser Aufgabe sehr bewußt ist, bezeugt ein Artikel aus dem evangelischen Gemeindeblatt für Kelsterbach, in dem es bereits 1934 heißt: „Die Arbeit der Frauenhilfe für unsere Kirche ist unentbehrlich, sie kann von keiner anderen Frauenorganisation getan werden. Solange es eine evangelische Kirche gibt, ist sie darauf angewiesen, daß die Frauen die zu ihr gehören, den Dienst tun, zu dem sie sich durch das Evangelium verpflichtet wissen.“

Bedenkt man, wie genau man damals seine Worte abwägen mußte, wie hellhörig Zensur und Parteigenossen waren, so ist das ein überaus mutiges Zeugnis und eine klare Absage an ein ausschließlich völkisches Denken. Wenn auch nicht mehr mit staatlicher Zustimmung kann die Frauenhilfe doch immerhin weiterarbeiten, und mit dem Kriegsausbruch wird ihre Arbeit  wichtiger denn je.

Zum einen durch die beiden Gemeindeschwestern, Schwester Lydia und Schwester Sofie. Sie erhalten die Krankenpflege aufrecht, sie kümmern sich auch um kranke Zwangsarbeiter, was den Parteioberen aber nicht bekannt werden darf, sie halten Kindergottesdienste und führen die Kirchenbücher, da Pfarrer Gaby eingezogen worden ist, sie leiten den Kindergarten und sind in Vertretung des Pfarrers seelsorgerisch tätig, kurz sie halten die Gemeindearbeit am Laufen. Ohne die Frauenhilfe, die die Schwesternstation ja trägt, wäre diese für die Gemeinde überlebensnotwendige Arbeit nie geleistet worden. Zum anderen werden weiterhin Sammlungen veranstaltet: für die Soldaten, später auch für Ausgebombte. Es gibt Unterstützung für Mütter, die in den Fabriken arbeiten und Betreuung für ihre Kinder brauchen, allerdings gibt es nur noch wenige regelmäßig stattfindende Veranstaltungen. Fliegeralarm, und abendliche Verdunklungspflicht, das argwöhnische Auge der Partei, aber auch die reine Arbeitsbelastung all derer, die noch im Dorf leben, lassen liebgewordene Treffen zu einem unerreichbaren Luxus werden.

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1952

In Helsinki finden die olympischen Sommerspiele statt, Albert Schweitzer erhält den Friedensnobelpreis, in Deutschland beginnt das Fernsehzeitalter. Außerdem wird das Transistorradio erfunden, der erste Herzschrittmacher wird eingesetzt und die Polioimpfung wird entwickelt. In Großbritannien stirbt König George der VI, seine Tochter Elisabeth wird Königin. In Korea stehen sich die Weltkriegsverbündeten USA und UDSSR in einem grausamen Weltanschauungskrieg gegenüber und in Kenia wird der Mau-Mau-Aufstand blutig bekämpft. Das Ende des kolonialen Zeitalters ist nicht mehr aufzuhalten.

Der Westen Deutschlands befindet sich in einer nie dagewesenen Aufbauphase. Sieben Jahre zuvor hatte das deutsche Reich den Krieg verloren, war von den Alliierten besetzt worden und die Bevölkerung erkannte so allmählich das volle Ausmaß der Verbrechen, die in seinem Namen aber eben auch durch große Teile der Bevölkerung begangen oder doch wenigstens stillschweigend hingenommen worden waren. Alle größeren Städte waren schwer bombardiert worden, Mainz lag zu 80 % in Trümmern, Hanau war eine der drei am schwersten zerstörten Städte überhaupt. Rund ein Drittel Deutschlands war im Osten abgetrennt worden, viele Millionen Flüchtlinge und Vertriebene mußten sich eine neue Existenz aufbauen, wenig unterstützt von der ansässigen Bevölkerung, die glaubte selbst schon genug zu leiden zu haben. Daß die Alliierten ein reines Zweckbündnis bei der Bekämpfung der Achsenmächte Deutschland, Italien und Japan eingegangen waren, daß sie aber im Grunde vollkommen verschiedene Ansichten von Staat und Gesellschaft haben, zeigt sich sehr bald nach Ende des Krieges, als eine gemeinsame Besatzungspolitik in Deutschland schnell scheitert. Die Spaltung Deutschlands als Folge des rasch einsetzenden „kalten Krieges“ und die immer neuen Krisen um das gemeinsam verwaltete Berlin lassen kein Vertrauen auf dauerhaften Frieden aufkommen. Dennoch gelingt im Westen Deutschlands mit Hilfe der ehemaligen Kriegsgegner ein rasanter Aufschwung, das Wirtschaftswunder. Durch die sich rasch zuspitzenden Konflikte der Weltmächte, aber auch durch das politische Geschick des ersten Bundeskanzlers Adenauer gelingt sehr viel schneller als gedacht das Entstehen der Bundesrepublik. 1952 bereits wird das Land mit dem Deutschlandvertrag weitestgehend souverän, auch tritt es der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft bei, woraufhin die DDR die Grenzen sperren lässt. Bei all dem Aufschwung vergisst man damals nur zu gern die Schande, die der Nationalsozialismus über Deutschland gebracht hat. Immerhin aber wird bereits im Jahr 1952 ein erster Vertrag über Wiedergutmachungsleistungen mit dem jungen Staat Israel geschlossen.

Auch Kelsterbach hat sich in den vergangenen Jahren enorm verändert. Bedenkt man die Lage des Dorfes mitten im Rhein- Main-Gebiet, umgeben von kriegswichtigen Zielen wie dem Flughafen, den Farbwerken, den Opelwerken, aber auch der hiesigen Kunstseidefabrik, ist es nur als großes Glück zu bezeichnen, daß von den rund 1000 Gebäuden des Ortes nur 10 zerstört und 29 schwer getroffen wurden. Als die Amerikaner im März 1945 Kelsterbach einnehmen, kann das Leben hier deshalb schon relativ schnell wieder eine gewisse Normalität annehmen, zumindest verglichen mit den Bewohnern der zerstörten Städte, den umherirrenden Zwangsarbeitern, den Kriegsgefangenen und den Vertriebenen. Mehr als der Krieg verändert die Nachkriegszeit Kelsterbach. Mehrere Tausend Vertriebene und Flüchtlinge suchen hier eine neue Heimat, das rasch einsetzende Wirtschaftswunder braucht gerade in den Industriezentren dringend neue Arbeitskräfte, aber auch Bauland für Wohnungen und Fabriken wird dringend gesucht. Vor allem der Flughafen und die Farbwerke rücken dem alten Bauerndorf immer näher, der Ort selbst wächst rasant, und so ist es folgerichtig, daß Kelsterbach 1952 zur Stadt erhoben wird. Die Mitglieder der Frauenhilfe finden sich einmal mehr in einer Welt wieder, die sich in nur 10 Jahren völlig verändert hat. Viel Zeit für eine Rückkehr zur Normalität bleibt da nicht. Mit der Zahl der Einwohner Kelsterbachs steigt auch die Zahl der Gemeindeglieder. Es dauert allerdings oft lange, bis die neu nach Kelsterbach gekommenen Frauen auch den Weg in die Frauenhilfe finden. Sie fühlen sich fremd, oft auch nicht willkommen, auch sind sie ja nicht freiwillig hier, mit dem Denken oft mehr in der alten Heimat als in Kelsterbach. Die alt eingesessenen Kelsterbacher sehen in ihnen Eindringlinge, häufig genug aber auch Schlimmeres. Dass die Neukelsterbacherinnen sich oft nicht leicht tun, ihren Weg in die Frauenhilfe zu finden, hat jedoch noch einen weiteren Grund.

Im alten Großherzogtum Hessen hatten die beiden letzten Großherzoginnen mit viel Engagement die Entstehung von evangelischen Frauenvereinen unterstützt, hier hatten sie sich als wichtigen Bestandteil des Gemeindelebens bereits etabliert und bewährt. Allerdings gab es diese Tradition bei Weitem nicht überall in Deutschland, viele derer, die neu hierherkommen, wissen mit einer Frauenhilfe schlicht nichts anzufangen. Da sich die Frauenhilfe aber immer als einen Teil der Gemeinde verstand, lernen auch die neu Hinzugekommenen ihre Arbeit bald kennen und schätzen, und heute kann man diese Schwellenängste der Nachkriegszeit kaum noch verstehen. Obwohl die Frauenhilfe von den Beschränkungen im Vereinsleben der direkten Nachkriegszeit nicht betroffen ist, tut sie sich zunächst schwer, ihre traditionelle Arbeit des Sammelns und Unterstützens wieder aufzunehmen, das Geld ist wieder einmal  nichts wert. Dennoch kann die Trägerschaft der Schwesternstation weitergeführt werden. Auf die sich immer mehr abzeichnende Teilung Deutschlands und auf die äußerst gespannte Versorgungssituation der Menschen in der DDR reagiert die Frauenhilfe, indem sie eine Patenschaft mit einer Gemeinde in Groß-Bernten eingeht. Über viele Jahre werden fleißig Päckchen geschickt, zum einen um die Versorgung zu erleichtern, zum anderen auch um die Verbundenheit von Christen über politische Grenzen hin Wirklichkeit werden zu lassen. 1952 ist es ein harter Schlag, als die beiden Schwestern, die in den Kriegsjahren so unermüdlich in der und für die Gemeinde tätig gewesen waren nun wegen Schwesternmangels in ihr weit entferntes Mutterhaus zurückgeholt werden. Ersatz kann glücklicherweise beim Agnes-Karll-Verband gefunden werden, und so kommt Schwester Hilde nach Kelsterbach, wo sie für 25 Jahre die Krankenpflege in der Gemeinde in die Hand nimmt. Schwester Hilde ist die erste Gemeindeschwester, die nicht von einem ev. Mutterhaus gesandt ist, der Agnes-Karll-Verband ist ein offener Verband, aber in ihrer tiefen und selbstverständlich gelebten, dabei aber niemals aufdringlichen Glaubenszuversicht bringt sie zusammen mit ihrer beruflichen Kompetenz auch den Trost des Evangeliums und den Beistand der Gemeinde in die Häuser der Kranken. Eine wunderbare Frau, klug und belesen, ist sie vor allem aber weit über ihre Pflicht hinaus liebevoll um die ihr anvertrauten Menschen bemüht.

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1962

Während der Kuba-Krise steht die Welt kurz vor dem Beginn eines atomaren Krieges. Die deutsche Nordseeküste wird von einer verheerenden Sturmflut heimgesucht. In Rom beginnt das 2. Vatikanische Konzil und Hamburg erlebt den ersten Auftritt der Beatles. In Frankfurt findet das erste Rennen „rund um den Henningerturm“ statt, der hessische Rundfunk sendet erste Bilder in Farbe. Das Frankfurter Gesundheitsamt gibt bekannt, daß in der Stadt 23 neue Fälle von schweren Missbildungen bei Säuglingen in Folge von Contergan aufgetreten sind. Das deutsche Wirtschaftswunder läßt die Arbeitslosenzahlen in einem nie gekannten Ausmaß sinken, 140 000 Deutsche sind ohne Arbeit, das entspricht 0,7%. An der ein Jahr zuvor durch die DDR errichteten Berliner Mauer kommt es zum ersten tödlichen Zwischenfall, Peter Fechter wird bei dem Versuch, in den Westen zu fliehen, von Angehörigen der DDR Grenztruppen erschossen.

In Kelsterbach geht es weiter aufwärts. Die Einwohnerzahl nähert sich allmählich der 15 000 Marke, aus den zunächst wie lose in die Felder gestreut wirkenden Einzelhäusern südlich der Bahn wächst ein eigener Stadtteil, der bald größer sein wird als das Unterdorf. Ortsmitte ist schon lange nicht mehr der Marktplatz. So ist es auch nicht verwunderlich, daß 1960 mit dem Bau des neuen Rathauses im neu entstehenden Stadtteil begonnen wird. Zum ersten Mal seit ihrer Gründung vor 50 Jahren sehen sich die Mitglieder der Frauenhilfe nicht vor die Aufgabe gestellt Not, Hunger und Ausweglosigkeit zu bewältigen. Der Westen Deutschlands erreicht in diesen Jahren einen nie zuvor gekannten Wohlstand, überall herrscht Aufbruchsstimmung, auch in Kelsterbach. Mit der Stadt sind auch die Kirchengemeinden enorm gewachsen, die beiden Kirchen im Unterdorf stehen inzwischen fast am Rand des Ortes. So beginnen in den Fünfzigern die Planungen für Neubauten im oberen Ortsteil. 1956 kann die Evangelische Gemeinde das neue Gemeindezentrum an der Elbestraße einweihen, auch die Frauenhilfe ist hier wieder gefordert. Das Gemeindezentrum verfügt über eine eigene Schwesternstation, da die bestehende im Gebäude des Kindergartens in der Pfarrgasse an seine Grenzen gestoßen ist. Die Frauenhilfe übernimmt es, zwei Schwestern aus dem Marburger Mutterhaus anzustellen, auch die Einrichtung der Schwesternstation wird von der Frauenhilfe finanziert.

Inzwischen empfindet man in der Gemeinde die bestehenden Versammlungsräume im Kindergarten bzw. in der auf dem Kindergartenspielplatz stehende „Baracke“ als unzureichend, der Wunsch nach neuen Gemeinderäumen wird laut. Nachdem sich die Planung eines großen Gemeindezentrums auf dem Gelände des Kindergartens mit Jugendheim, Schwesternstation, Gemeinderäumen und einem neuem Kindergarten als nicht finanzierbar erweist, wird die Scheune des Anwesens Untergasse 2 zum Gemeindesaal mit eigener Küche umgebaut, die Frauenhilfe hat auch hier bei der Einrichtung ihren Anteil, vor allem hat sie für die nächsten Jahrzehnte ein neues zu Hause gefunden. Durch das neue Gemeindezentrum in der Siedlung kommen die Gemeindeglieder, die südlich der Bahn wohnen, nur noch selten nach St. Martin, eine eigene Gemeindeidentität ist im Entstehen, und so dauert es auch nicht lange, bis Pläne heranreifen, im Süden Kelsterbachs eine eigene Gemeinde mit eigenem Pfarrer, eigener Kirche und auch eigener Frauenhilfe zu gründen. Am ersten Juli 1962 wird diese Trennung wirksam, wobei den Beteiligten die Feststellung wichtig ist, dies sei eine Trennung, keine Scheidung. Die beiden Frauenhilfen firmieren zunächst unter dem Namen Frauenhilfe Nord- und Südbezirk, später dann unter dem Namen der jeweiligen Gemeinden. In diesem Zusammenhang sollte nicht vergessen werden, daß wir in diesem Jahr mitnichten das 100 jährige Bestehen allein der Frauenhilfe von St. Martin feiern, sondern das Bestehen der Frauenhilfe in Kelsterbach, da alle drei, ihren jeweiligen Gemeinden angegliederten Frauenhilfen ihren Ursprung in der Gründung von 1912 haben

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1972

In München finden die Olympischen Sommerspiele statt, Heinrich Böll erhält den Nobelpreis für Literatur, in England wird der erste Computer Tomograph eingesetzt, das erste Handy kommt auf den Markt und am Frankfurter Flughafen wird das neue Abfertigungsgebäude eingeweiht.

Nach den Jahrzehnten des Aufbaus werden in Deutschland die Stimmen immer lauter, die vehement eine Weiterentwicklung der Gesellschaft fordern. Nachdem inzwischen die äußeren Rahmenbedingungen des täglichen Lebens gesichert sind, beschäftigt sich vor allem die jüngere Generation mit der Frage, ob der Neubeginn 1945 wirklich ein Neuanfang war. Reformen in Staat und Gesellschaft, im Bildungssystem und in der Justiz, in Fragen der Mitbestimmung und der politischen Positionierung der Republik werden immer lauter eingefordert. Es sind unruhige Jahre, Studentenproteste, Demonstrationen, schließlich ein neuer Ansatz in der Außenpolitik. Die neue Ostpolitik führt 1972 zum Berlinabkommen und zum Grundlagenvertrag, in dem erstmals die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR geregelt werden. Deutschland wird von den Anschlagsserien der sogenannten Baader-Meinhof-Gruppe terrorisiert, im Juni 1972 gelingt die Verhaftung Andreas Baaders in Frankfurt.

In Kelsterbach schreitet die Entwicklung der Stadt voran, das Altenwohnheim, das Hallenbad und die Anlagen des Sportparks entstehen ebenso wie die integrierte Gesamtschule und die Mehrzweckhalle Nord, die sehr schnell auch von der Gemeinde genutzt wird. Mit der St. Markuskirche und der Christuskirche erhalten die Gemeinden die südlich der Bahn entstanden waren, ihre eigenen Gotteshäuser.

Für die Frauenhilfe ist das vergangene Jahrzehnt ohne größere Turbulenzen verlaufen, allmählich wandelt sich ihr Selbstverständnis mit den sich verändernden Aufgaben. Kinderbetreuung und Krankenpflege sowie Fortbildung für Mädchen und Frauen, das waren seit der Gründung die wesentlichen Aufgabengebiete, Aufgabengebiete in denen Staat und Gesellschaft kaum aktiv waren oder durch die Not der Kriegsjahre nicht tätig sein konnten. Immer mehr nimmt der Staat sich allerdings nun speziell dieser Themen an. Kindergärten gehören längst zu den kommunalen Kernaufgaben, hier ist die Frauenhilfe aus der Pflicht entlassen, und so unterstützt sie zwar mit Spenden die Einrichtung des 1968 erbauten neuen Kindergartens der Gemeinde, Träger ist allerdings die Kirchengemeinde selbst, finanziell abgesichert durch die Stadt. Auch den gestiegenen Anforderungen in der Kranken- und Altenpflege kann die Frauenhilfe mit ihrer kleinen Schwesternstation nicht mehr alleine entsprechen. Zwar unterstützt sie die Station weiterhin tatkräftig, allein aus eigenen Mitteln ist aber die Trägerschaft nicht mehr zu leisten. Nach wie vor unverzichtbar ist die Frauenhilfe allerdings für die Gemeinde. Sie steuert stolze 11 000 DM bei, als 1970 endlich die altersschwache und kaum noch zu gebrauchende Orgel der St. Martinskirche durch eine neue ersetzt werden kann. Die Anschaffung dieses weithin für seinen hervorragenden Klang gerühmten Instruments wäre in seiner vollendeten  Schönheit ohne die Frauenhilfe niemals möglich gewesen.         

Doch darf man über diesem Engagement für die eigene Gemeinde nicht glauben, die Frauen hätten vergessen, dass es nicht überall auf der Welt so steil aufwärts geht wie in Deutschland. Seit einigen Jahren bestehen enge Kontakte zwischen der Gemeinde und der Basler Mission. Missionar Vandenbergh berichtet vom Hilfsprojekt „Mile seven“. Hier lässt die Missionsgesellschaft in trockenen Regionen Ghanas Brunnen graben, die vorhandenen Mittel reichen aus, um jährlich einen Brunnen für ein Dorf auszuheben. Um alle drei Dörfer des Missionsprojekts mit Brunnen zu versorgen wären 500 D-Mark im Jahr notwendig. Spontan beschließt die Frauenhilfe die Überweisung von 1500 D-Mark, so haben drei Dörfer für drei Jahre genug Wasser.  Außerdem unterhält die Gemeinde eine Missionspatenschaft zu dem Leprahospital der Basler Mission in Manyemen in Kamerun. Die Frauen der Frauenhilfe sammeln auch hier Spenden und investieren vor allem viel Zeit in das Stricken von Binden für die Versorgung der Leprakranken. Binden, die damals in der notwendigen Stricktechnik und in dem besonderen für die Behandlung notwendigen Material noch nicht maschinell hergestellt werden. Säckeweise werden die Binden bei den Jahresfesten herbeigebracht, manche Frauenhilfsmitglieder scheinen das ganze Jahr über tatsächlich nur Binden zu stricken.

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1982

England und Argentinien führen Krieg um die Falkland-Inseln. Die erste CD kommt auf den Markt ebenso wie der erste Laptop. Die Abrüstungsverhandlungen zwischen den Weltmächten kommen nicht voran.

Die Jahre des unaufhörlichen Aufschwungs sind in Deutschland vorüber. Traditionsunternehmen wie AEG oder AGFA müssen Vergleich anmelden, die Wohnungsbaugesellschaft Neue Heimat gerät in ernste Schwierigkeiten. Die Waffenarsenale, die West und Ost überall auf der Welt gegeneinander in Stellung gebracht haben, erreichen  inzwischen Ausmaße, die ausreichen würden, um die Weltbevölkerung gleich mehrmals völlig auszulöschen. Die Friedensbewegung entsteht, 1982 erlebt die Republik die mit 400 000 Teilnehmern bisher größte Demonstration im Bonner Hofgarten. Auch die Ostermärsche nehmen ihren Anfang, Pershing- sowie SS 20 Raketen sorgen für dauerhaften Diskussionsstoff.

Auch für Kelsterbach ist 1982 ein unruhiges Jahr. Hatte man über Jahrzehnte den benachbarten Flughafen als sichern Arbeitgeber und angenehmen Steuerzahler erlebt, so empfinden ihn nun immer mehr Menschen als ständig weiter wuchernden Moloch, der Bau der Startbahn West sorgt für bisher in Deutschland nicht gekannte Polizeieinsätze, auch in Kelsterbach wird heftig diskutiert. Zwar entstehen in diesen Jahren beispielsweise mit dem neuangelegten Südpark attraktive Naherholungsgebiete, aber die Angst vor allzu viel Fluglärm wächst.

Von all diesen Bedrohungen unbeirrt setzt die Frauenhilfe ihre Arbeit fort. Immer wieder neue Projekte sind es, für die gearbeitet, gesammelt und gebastelt wird. Darüber hinaus gehen die Frauen daran, in einer Welt, die immer mehr attraktive Freizeitangebote bereithält, in der immer mehr Vereine um Mitglieder werben, den Zusammenhalt zu stärken. So finden erste gemeinsame Ausflüge statt, auch wird der Versuch unternommen, innerhalb des Vereins eine „jüngere Frauenhilfe“ zu etablieren, die dem immer wieder zu hörenden Vorurteil entgegenwirken soll, die Frauenhilfe sei ein Kränzchen alter Damen. Daß dieser Versuch schließlich nicht gelingt, liegt vor allem daran, daß die jüngeren Frauen sich zwar gern bei Aktionen engagieren, auch die gemeinsamen Projekte unterstützen, aber meist noch Kinder zu betreuen haben oder / und berufstätig sind, sodaß ihnen die Zeit für regelmäßige Treffen fehlt. 1981 entdeckt die Frauenhilfe das neu entstandene Altstadtfest als Möglichkeit, in der Öffentlichkeit präsent zu sein und für ihre Projekte Geld einzunehmen. Das Café St. Martinsklause öffnet seine Pforten, genauer gesagt die rechte Kirchentür, wo im Erdgeschoß des Treppenhauses ein Kuchenverkaufsstand eingerichtet wird, außerdem laden die Frauen zu Kaffee und Kuchen ins Sälchen in die Untergasse ein. Das Café ist schnell so beliebt, dass trotz zahlreichster Kuchenspenden die Vorräte oft nicht ausreichen. So manche Familie erlebt in diesen Jahren, dass die Mutter, die sich für den Sonntagnachmittag zu Hause abgemeldet hat, um im Frauenhilfscafé mitzuarbeiten, plötzlich wieder daheim am Kaffeetisch steht und ihren Lieben zu Hause  den Sonntagskuchen entführt, weil im Café bereits um 14 Uhr die Kuchentheke leer ist. Seit 1982 nimmt die Frauenhilfe auch am vom Kelsterbacher Gewerbeverein ins Leben gerufenen Weihnachtmarkt teil. Das Café St. Martinsklause, das sich bereits beim Altstadtfest bewährt hat, wird weiterbetrieben, erweitert um ein Sortiment weihnachtlichen Gebäcks und Glühweins, außerdem werden in einer Verkaufsbude vor der Kirche Basteleien, Plätzchen, Glühwein und Marmeladen zum Verkauf angeboten.

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1992

Ein tausend Jahre alter Plan ist vollendet, die auf die Zeit Karls des Großen zurückgehende Idee des Rhein-Main-Donau-Kanals ist Wirklichkeit geworden, etwas zu spät allerdings, der Nutzen ist gering. Das Kühlmittel FCKW, das als ein Hauptverursacher des Ozonlochs gilt, wird international verboten. Im ehemaligen Jugoslawien ist kein Frieden in Sicht, in Südafrika findet das Apardheitssystem sein Ende.

Deutschland ist seit zwei Jahren wieder vereint. Der wirtschaftliche Zusammenbruch der Warschauer-Pakt-Staaten und der Untergang ihrer politischen Systeme bedeutet auch das Ende der DDR. Eine friedliche Revolution nimmt ihren Lauf. Um anders als nach 1945 diesmal von Beginn an das Unrechtssystem der DDR aufzuarbeiten, nimmt 1992 die Gauck-Behörde ihre Arbeit auf.

Das Zusammenwachsen Deutschlands ist auch in Kelsterbach zu spüren. Hier leben viele ehemalige DDR-Bürger, die nach ihrer Flucht in Kelsterbach eine neue Heimat gefunden haben. So kann man hier auch bereits in den ersten Tagen nach der Maueröffnung überall den typischen Geruch der Trabbiabgase wahrnehmen, viele Besucher kommen aus dem Osten, es wächst jetzt endlich wieder zusammen, was zusammen gehört. Der seit der Wiedervereinigung stattfindende Gottesdienst am 3. Oktober, zu dem Stadt und Gemeinden gemeinsam einladen, ist ein Zeichen der Dankbarkeit, daß am Ende eines für Deutschland so grauenhaften Jahrhunderts das Wunder der Einheit gelang. Diese Gottesdienste finden im seit kurzem fertiggestellten Bürgerhaus, heute Fritz-Treutel-Haus statt, das inzwischen  ein weiterer Einsatzort der Frauenhilfe geworden ist. Bei einigen städtischen Veranstaltungen übernimmt sie die Bewirtung. Überhaupt ist die Frauenhilfe im Lauf der Jahre ein höchst erfolgreicher und gern gesehener Caterer geworden.

Im Laufe der Jahre hat es sich  eingebürgert, das die Frauenhilfe bei nahezu allen Veranstaltungen der Gemeinde, und das werden immer mehr, die Bewirtung übernimmt. Die Frauen backen Kuchen, sie richten Festräume her, servieren Kaffee, verkaufen Selbstgebasteltes, sie nehmen dadurch nicht nur Geld für ihre verschiedenen Projekte ein, sondern sie bestimmen auch die Außenwahrnehmung der Gemeinde maßgeblich. Die „kurzen Wege“ zwischen Frauenhilfe, Pfarramt und Kirchenvorstand sorgen dafür, daß kaum geredet oder getagt werden muß, es wird einfach etwas getan. Der Informationsfluß ist unkompliziert, ohne Kompetenzgerangel, das Bewusstsein, für die gleiche Sache zu arbeiten, ist allen selbstverständlich. Der Spruch von der Frauenhilfe als dem „Rückgrat der Gemeinde“ wird immer wieder aufs Neue bestätigt. Seit 1983 besitzt die Gemeinde ein eigenes Gemeindehaus auf dem Gelände des alten Kindergartens. Die Frauenhilfe übernimmt es, Teile des Inventars anzuschaffen, außerdem richtet sie das Dienstzimmer für die Gemeindeschwester ein. Das neue Gemeindehaus wird fortan der wichtigste Wirkungsort der Frauenhilfe. Café und Verkaufsstand während des Altstadtfestes und des Weihnachtsmarktes bekommen hier einen neuen, immer professioneller werdenden Rahmen, auch die Treffen der Frauenhilfe selbst finden hier statt. In den Achtziger  Jahren erfindet die Frauenhilfe auch ein neues Getränk, den „Glockensaft“. Technisch handelt es sich dabei um den auf dem Weihnachtsmarkt angebotenen Glühwein, seinen Namen verdankt er dem erklärten Willen der Frauenhilfe, aus den Verkaufseinnahmen und auch aus dem Erlös weiterer Aktivitäten die Mittel zusammen zu bekommen, um eine der  Glocken für das geplante Geläute der St. Martinsgemeinde zu finanzieren. Die immerhin siebtgrößte der 26 in Kelsterbach läutenden Glocken geht so auf den Einsatz der Frauenhilfe zurück. Der der Glocke aufgegossene Spruch: „Rede, rede und schweige nicht, denn ich habe ein großes Volk in dieser Stadt“ beschreibt übrigens nicht, wie böse Zungen behaupten, die Zustände im Mittwochskreis der Frauenhilfe sondern stammt aus der Apostelgeschichte und ist eine wichtige Forderung der Reformation. Sie betrifft in besonderer Weise die Frauen, die seit Beginn der Reformation als immer mehr gleichberechtigte Gemeindeglieder Einfluß und Stimme in den Gemeinden gewonnen haben. Die neue Läuteordnung wurde so gestaltet, daß die „Frauenhilfsglocke“ möglichst immer dabei ist. Sie nimmt die vierte Stelle im sechsstimmigen Geläute ein und steht so sinnbildlich für ihre Stifterin. Nicht als Lauteste, nicht als Leiseste, nicht die Größte, nicht die Kleinste, aber immer hörbar, und immer beteiligt.

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2002

Der amerikanische Präsident George W. Bush prägt den Begriff von der Achse des Bösen. Beim Amoklauf eines ehemaligen Schülers kommen in einem Erfurter Gymnasium 17 Menschen ums Leben. Starke Regenfälle führen vor allem in Tschechien und in Sachsen zu einer gewaltigen Jahrhundertflut, die D-Mark verschwindet aus den Portemonnaies und das Dosenpfand wird eingeführt.

Unser Weg durch 100 Jahre evangelische Frauenhilfe in Kelsterbach wurde bislang in jedem Kapitel durch einen kurzen Abriss der politischen und gesellschaftlichen Ereignisse und Entwicklungen eingeleitet, da das Wirken der Frauenhilfe nur aus dem Kontext der jeweiligen Zeitumstände heraus verständlich wird. Inzwischen sind wir fast schon in der Gegenwart angekommen, und so wird es zunehmend schwierig, die Entwicklungen, die unser Leben begleiten und bestimmen, abschließend einzuschätzen. Die beiden letzten Etappen werden sich deshalb auf eine reine Darstellung der für die Frauenhilfe wichtigen Ereignisse beschränken. Diese zu bewerten und einzuordnen soll dann einer weiteren Festschrift zum 150 jährigen Jubiläum überlassen bleiben!

 Seit ihrer Gründung ist es ein besonderes Anliegen der Frauenhilfe, die Krankenpflege in der Gemeinde sicherzustellen. Aus diesem Grund ist sie auch wieder fleißig dabei, als 1998 die neue Krankenpflegestation im restaurierten Stolle-Haus in der Pfarrgasse eröffnet wird. Moderne  Pflegehilfsmittel  müssen gekauft, die Station muss eingerichtet werden.

Auch wenn die Finanzierung inzwischen weitestgehend durch die Erstattungen der Krankenkassen gesichert ist, vieles bleibt zu tun, und die Frauenhilfe tut es. Umso größer ist daher nun die Enttäuschung, dass die neue Pflegestation schon nach wenigen Jahren aufgegeben werden muß. Die Zeiten haben sich geändert, Pflege hat ausschließlich professionell zu sein, die Krankenkassen wollen mit kleinen Stationen nicht abrechnen, das erscheint zu aufwendig. Von kirchlicher Seite wünscht das Diakonische Werk, in dessen Obhut die Landeskirche die gemeindliche Krankenpflege gegeben hat, zentrale Pflegestationen in den Dekanaten, kurz: die Frauenhilfe darf ihr durch schwerste Zeiten hindurch nie aufgegebenes Hauptprojekt nicht länger weiterführen. Daß hier zu Gunsten einer nicht wirklich größeren Professionalität das Aufrechterhalten der Verbindung zwischen den durch Krankheit eingeschränkten Gemeindegliedern zur Gemeinde enorm erschwert wird, daß die Gemeinde ihren apostolischen Auftrag, sich um die Schwachen zu kümmern aufgeben muss, interessiert keinen unter den fernen Entscheidungsträgern. Die Schwesternstation, durch die die Frauenhilfe zeigen konnte, daß die Gemeinde ihre Mitglieder gerade auch in schweren Zeiten nicht allein läßt, muß schließen. Grund zur Traurigkeit, der Pragmatismus der Frauen kennt allerdings keinen Raum für Resignation. Mit den freiwerdenden Geldbeträgen wird nun die Jugendarbeit der Gemeinde stärker gefördert. Weitere Unterstützung geht an die Bethelschen Anstalten, an die Nieder-Ramstädter Heime oder an die Kinder-Krebsstation in Frankfurt; sogar ein Stein der Dresdner Frauenkirche wird durch die Frauenhilfe finanziert.

Der Sozialstaat kommt allmählich an seine Grenzen, es muß gespart werden, und so wird es wieder wichtiger, über die öffentlichen Leistungen hinaus Gelder zu erwirtschaften, um den Schwachen in der Gesellschaft zu helfen. Daß die Frauenhilfe auch sehr spontan  und, gemessen an ihren finanziellen Möglichkeiten beachtlich helfen kann, zeigt sich nach dem Jahrhundert Hochwasser, das 2002 Teile Sachsens verwüstet. Kurzentschlossen werden die Einnahmen aus dem Altstadtfest, um mehrere Einzelspenden angereichert, dem evangelischen Pfarramt in der besonders stark betroffenen Stadt Grimma überwiesen, Rund 4000 Euro werden hierfür zusammengebracht.

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2012

Wir sind in der Gegenwart angekommen. In einer Gegenwart, die bei Vielen Sorge für die Zukunft aufkommen läßt. Keineswegs überwunden ist die Krise, die auf den Zusammenbruch amerikanischer Banken 2008 folgte. Der Euro und mit ihm die Europäische Union stehen vor ihrer größten Bewährungsprobe. Nach dem Reaktorunglück in Fukoshima will man in Deutschland auf Kernenergie verzichten, Wo allerdings die benötigte Energie herkommen soll und wie man sie finanzierbar halten will, ist bei weitem noch nicht abschließend geklärt. Auch an anderer Stelle ist politisch vieles in Bewegung geraten, die autoritär regierten Staaten Nordafrikas und des vorderen Orients erkämpfen sich die Freiheit, auch hier ist noch lange nicht absehbar, wohin diese Entwicklung führen wird.

In Kelsterbach hat man derweil ganz andere Sorgen. War bereits Anfang der Achtziger der Bau der Startbahn West als Bedrohung der Lebensqualität empfunden worden, so rückt der Flughafen mit der neuen Landebahn direkt an die Stadt heran, weiterer Lärm und Abgasbelastung sind die Folge. Die durch den Flughafen prognostizierten Zuwachsraten bei Flugbewegungen lassen für die Zukunft schlimmes befürchten.

Doch all das sind nicht die Probleme der Frauenhilfe. In den inzwischen 100 Jahren ihres Bestehens hat sie sich nie mit Politik auseinandergesetzt, das Lindern der durch die Politik hervorgebrachten Nöte war Aufgabe genug. Die Frauenhilfe tut ihre Arbeit weiterhin mit Erfolg. Sie ist überall dort in der Gemeinde anzutreffen, wo Hilfe gebraucht wird. Ob finanziell, ob durch tatkräftiges Mittun und Unterstützen, nach 100 Jahren ist sie nicht mehr aus der Gemeinde wegzudenken. Als die Stadt Kelsterbach den Weihnachtsmarkt abschaffen will, droht der Frauenhilfe eine ihrer wichtigsten Einnahmequellen wegzufallen. Da ist der Weg nicht weit zu der Frage: wenn die es nicht mehr machen wollen, warum machen wir es nicht selbst? Der Kindergartenspielplatz, das Haus Feste Burg mit seiner inzwischen sehr professionellen Ausstattung (übrigens: die neu eingebaute, leistungsfähige Küche hat selbstverständlich die Frauenhilfe bezahlt), die jahrelange Erfahrung im Ausrichten von Festen… wieso also nicht? Mit städtischer Unterstützung kann am Ende sogar das kulturelle Rahmenprogramm in der Kirche aufrecht erhalten werden. Die Frauenhilfe tut also weiterhin das was sie am besten kann: zupacken wo es nötig ist! Nach wie vor bläst sie sich dabei nicht auf. Durch ihr bescheidenes Auftreten schafft sie allerdings auch ihr einziges Problem. Vieles von dem, was sie tut, wird kaum wahrgenommen, würde aber enorm fehlen, wenn es nicht mehr geschähe. Da sind zunächst die Bezirksfrauen, deren einzige Aufgabe ursprünglich das Einsammeln der Jahresbeiträge war. Im Lauf der Jahre übernahmen sie dann immer weitere Aufgaben. So besuchen sie Kranke, sie tragen den Gemeindebrief in die Häuser, sie sind aber vor allem unverzichtbar für die Kommunikation in der Gemeinde, sie erfahren oft als erste von Problemen in den Häusern und können die Hilfe der Gemeinde anbieten. Auch in Zeiten von Facebook und anderen Kommunikationsmedien ist ihr Vorhandensein unverzichtbar, sie sind es, die das Ohr am Puls der Gemeinde haben.

Des Weiteren gibt es nach wie vor den Mittwochskreis, in dem sich vor allem die Älteren zusammenfinden. Viele sind nicht mehr in der Lage, sich aktiv an den Aktionen der Frauenhilfe zu beteiligen. Für sie ist der Mittwochskreis der Ort, Verbindung zu halten, für die Gemeinde ist der Kreis die Möglichkeit, den Frauen zu zeigen: Ihr gehört noch immer dazu. In einer Zeit, in der vor allem ältere Menschen oft zu Hause vereinsamen, bietet sich den Frauen alle zwei Wochen im Gemeindehaus die Möglichkeit zusammenzukommen, über alte Zeiten zu sprechen, aber auch gerade Erlebtes zu verarbeiten. Gemeinsame Andachten, Liedersingen, Nachdenken über den Losungsspruch, aber auch einfach das Zusammensein schaffen hier eine Anlaufstelle für viele, die sonst zu Hause allein wären.

Weiterhin gibt es die Aktivitäten beim Altstadtfest und bei fast allen Veranstaltungen der Gemeinde, das Ausrichten des Weihnachtsmarktes, die Beteiligung am Weltgebetstag der Frauen, sowie die Teilnahme an Ausflügen. Trotz aller Aktivitäten klagen Mitglieder immer wieder: was tun wir denn überhaupt noch, wir leisten doch gar nichts Besonderes mehr? Hier machen sicher viele den Fehler, nur das zu sehen, was nicht mehr getan wird, beispielsweise die Schwesternstation unterstützen oder Nähkurse abhalten. In den letzten Kapiteln ist deutlich geworden, wie flexibel die Frauenhilfe immer wieder auf die Anforderungen, die unterschiedliche Entwicklungen mit sich brachten, reagiert hat. Die meisten ihrer Aufgaben hat sie übernommen als niemand anderes das tun wollte. Als sich Staat und Gesellschaft immer mehr auch in sozialen Bereichen zu engagieren begannen, wurde diese Arbeit überflüssig, neue Betätigungsfelder taten sich auf. Nun, da die öffentliche Wohlfahrt an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit kommt, unterstützt die Frauenhilfe wieder verstärkt Projekte, die ihrem Gründungsauftrag nahekommen. Nur weil wir in Kelsterbach auch in rauher werdenden Zeiten noch keine wirklichen Probleme kennen, heißt es nicht, daß diese anderswo nicht in oft erdrückender Form bestehen. Hier helfen wir im Rahmen unserer Möglichkeiten nach Kräften. Auch wenn davon in Kelsterbach selbst nicht viel zu sehen ist, Krankheit, Not und Armut bestehen weiterhin, und daß wir davon kaum betroffen sind verpflichtet uns nur umso mehr, uns für andere einzusetzen, wo immer sie auch sind.

Vor einigen Jahren hat unser Dachverband, die Frauenhilfe in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau beschlossen, sich einen neuen Namen zu geben. „Evangelische Frauen“ lautet der vom Verband empfohlene neue Name. Wir haben diesen Namenswechsel nicht übernommen. Daß wir Frauen sind, wissen wir, dass wir evangelisch sind, auch. Allein für diese Erkenntnis brauchen wir unseren Verein nicht. Der alte Name: „Evangelische Frauenhilfe“ sagt viel mehr aus, er sagt aus, wofür es unseren Verein gibt: Helfen! Wir sind evangelische  Frauen die helfen wollen. Ursprünglich, in Zeiten, in denen das niemand anderes tat halfen wir vor allem anderen Frauen, heute allen, die unsere Hilfe brauchen und annehmen wollen.

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2022, 2032, 2042,.....

Die Frauenhilfe geht in ihr zweites Jahrhundert. Eine Prognose, wo sie in 50, in 25 oder auch nur in 10 Jahren stehen wird, verbietet sich, unser Streifzug durch die vergangenen Jahrzehnte hat allzu deutlich gezeigt, wie schnell sicher Geglaubtes zu einem Ende kommen kann. Eines jedoch ist sicher: wo Gemeinde aktiv ist, sind es meist im Besonderen die Frauen. Wo Gemeinde hilft, helfen fast immer die Frauen. Wo Gemeinde sich entwickeln will, sind es fast immer die Frauen, die abseits aller Grundsatzdiskussionen einfach auf die Anforderungen sich wandelnder Zeitumstände zugehen.

Wo Gemeinde überleben will, braucht sie die Frauen. Hier genau zeichnet sich allerdings zunehmend ein Problem ab. In Zeiten unbegrenzter Freizeit- und Unterhaltungsmöglichkeiten, in Zeiten steigender beruflicher Anspannungen und in Zeiten eines immer heftiger werdenden „Ich Denkens“ finden immer weniger Frauen den Weg in die Frauenhilfe, vor allem die Jüngeren werden kaum noch Mitglieder. Dabei müssen sie gar nicht unbedingt sofort fleißig mitarbeiten. Die meisten von uns können sich erst mit praktischer Arbeit engagieren, wenn die Kinder erwachsen sind oder die Anspannung im Beruf nachläßt. Zunächst einmal reicht es vollkommen, Mitglied zu werden, einfach um unsere Arbeit zu unterstützen, einfach als Zeichen der Anerkennung. Außerdem ist unsere Arbeit überhaupt nicht „uncool“. Vieles, was zu Hause in der eigenen Küche langweilig und lästig ist, macht durchaus Spaß und schenkt Befriedigung, wenn man es gemeinsam tut. Zusammen ein Fest auszurichten und voll Stolz das Geleistete zu sehen schenkt Selbstbewußtsein. Teil eines Ganzen zu sein zu dem vielleicht schon Mutter und Großmutter gehörten und zu dem vielleicht einmal die Kinder gehören werden schenkt ein enormes Zugehörigkeitsgefühl. So soll an dieser Stelle ein Aufruf widerholt werden, den die Frauenhilfe zu ihrem 50 jährigen Jubiläum 1962 veröffentlicht hat:

 „Es wäre schön, wenn jede Frau die dies liest, bei der Evangelischen Frauenhilfe Mitglied wird“

Christus hat seiner Kirche versprochen, daß sie bis ans Ende der Zeiten bestehen wird, daß er sie auf ihrem Weg begleiten will. Wir danken Gott, daß wir mit unserer Frauenhilfe diesen Weg seit 100 Jahren mitgehen dürfen, wir danken ihm, daß er uns auch in schweren Zeiten in unserer Arbeit getragen hat. Wir bitten Gott, daß er uns hilft, unsere Aufgaben nie aus den Augen zu verlieren und vertrauen darauf, daß er unsere Arbeit auch in Zukunft segnen wird.

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Vorsitzende der Frauenhilfe

  • 1912 – 1929 Frau Koller
  • 1930 – 1937 Frau Fritsch
  • 1937 – 1947 Frau Margarethe Sehring
  • 1948 – 1954 Frau Anna Oeser
  • 1954 – 1961 Frau Rosa Wiegand
  • 1962 – 1969 Frau Liesel Sierch
  • 1969 – 2003 Frau Käthe Lickefett
  • seit 2003 Frau Katja Ehrlich

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